REVIEWS CROSSOVER 04-2018

 


 

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GEWINNSPIEL: Marc Romboy - Deconstructing Debussy

Johann Johannsson - Englabörn & Variations

Deutsche Grammophon / Universal

Ein Kreis schließt sich. Der gerade im Februar unter ungeklärten Umständen verstorbene Wahlberliner Jóhann Jóhannsson war bis dahin, wie DG-Label-Kollege Max Richter, einer der gefragtesten neuen Komponisten in Hollywood (u.a. Arrival, Mother!, The Mercy). Sein erstes, 2002 erschienenes Album Englabörn basierte auf früheren Theaterkompositionen (hauptsächlich für Streichquartet), ergänzenden Keyboards & Percussion. Jóhannsson selbst überarbeitete das nun in remasterter Form erscheinende Werk bis kurz vor seinem Tod und fügte neue Passagen hinzu. Auch die als Variations angefügten Theatre of Voices-Chorstücke, Interpretationen & Reworks anderer Künstler wie Ryuichi Sakamoto, DG-Pianist Vikingur Ólafsson (u.a. Darkest Hour) oder A Winged Victory for the Sullen waren bereits im Kasten, als der Isländer aus seinem regen (Arbeits-)Leben gerissen wurde. Keine Leichenfledderei also, sondern ein abgeschlossenes Werk, das wie vom Künstler gewollt das Alte neben dem Neuen klingen lässt, Johannssons erstes und letztes Album - als Vermächtnis. www.johannjohannsson.com

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Poppy Ackroyd - Resolve

One Little Indian / Indigo

Von einer sich stetig vergrößernden Anhängerschaft hofiert, von Puristen gelegentlich angefeindet, geht Hidden Orchestra-Live-Pianistin & Violinistin Poppy Ackroyd solo weiter ihren Weg. Auch auf dem vorliegenden Resolve bewegt sich die klassisch ausgebildete britische Musikerin, Komponistin und Produzentin in ähnlichen Gefilden wie Ludovico Einaudi, Hauschka oder Nils Frahm (s.u.), auf dem schmalen Grat zwischen Neoklassik und Minimal Music. Ackroyd besetzt dabei geschickt den weiblichen Teil der Nische und sorgt auch durch die klangliche Bandbreite an verwandten Tasteninstrumenten wie Clavichord, Cembalo, Spinett und Harmonium sowie ihre immer wieder unkonventionelle Spielweise rund um die Saiten für Abgrenzung zu den bekannten Kollegen. Da wird gestrichen, gezupft, geklopft oder gekratzt - Drumsticks, Plektrum oder E-Bow kommen zum Einsatz. Auch Field Recordings wie Vogelstimmen (von Kollege Joe Acheson unlängst mit Wingbeats & Dawn Chorus durchexerziert) finden Eingang in Ackroyds Soundkosmos. Zu Gast: Hang-Virtuose Manu Delago, Klarinettist Mike Lesirge (u.a. Bonobo), Flötistin Andreya Tria und Jo Quail am Cello. Im Februar konnte sich das Publikum von Bonn bis Hamburg mit Poppy Ackroyds Live-Performance bekanntmachen, im Mai kommt sie ins Nürnberger Küstlerhaus und ins Münchner Einstein Kultur (Halle 1). http://poppyackroyd.com http://poppyackroyd.com

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&
LIVE
 

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Steve Reich - Pulse / Quartet 

Nonesuch / Warner

Neues von Steve Reich. Im letzten Sommer beeindruckte der weltberühmte 81-jährige US-amerikanische Komponist mit seiner Präsenz bei Musica Viva in München. Nun erscheinen mit Pulse und Quartet zwei von der Carnegie Hall und KölnMusik beauftragte Werke als Ersteinspielungen, aufgeführt in New York 2016 und London 2014. Beide beteiligte Ensembles sind geradezu auf das Minimalismus-Repertoire Reichs spezialisiert: das International Contemporary Ensemble und die Colin Currie Group. Die gut 14 und 16 Minuten langen Kompositionen hängen auch künstlerisch zusammen: Quartet setzt erstmals zwei Klaviere und zwei Vibraphone in jazzig anmutende Wechselwirkung, lebendig im Klang, für Reich jedoch eine seiner "komplexesten Arbeiten“. Das für Streicher, Holzbläser, Klavier und E-Bass geschriebene Pulse ist eine Reaktion auf Quartet, mittels einer sich immer neu transformierenden Melodie und Kanonstrukturen, in den gleichen Harmonien wie Reichs (auch in München 2017 aufgeführtes) stilbildendes Music for 18 Musicians von 1976. www.stevereich.com

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Tony Banks - Five

BMG Rights Management / Warner

Zehn Alben außerhalb von Genesis gehen bereits auf das Konto von R´n´ R´-Hall of Fame-Keyboarder Tony Banks. Nach den Werken Seven: A Suite For Orchestra und Six Pieces For Orchestra schien das jetzt erhältliche, dritte orchestrale Werk 5 mit ebensovielen Stücken zwangsläufig. Dennoch versucht Banks auch hier noch einmal für ihn neue Wege zu gehen. Nach der Live-Aufführung des ersten Stückes Prelude to a Million Years auf dem Cheltenham Music Festival 2014 entschied er sich, die von Dirigent Nick Ingman für die große Besetzung inclusive des Vokalisen beisteuernden Chores orchestrierten Stücke sektionsweise aufzunehmen und im Studiomix zusammenzufügen, um größere Kontrolle über das Timing der einzelnen Musiker zu haben (ohne aufwendige Orchesterproben zahlen zu müssen). Die der Eröffnung folgenden vier Parts sind lose den Tageszeiten zugeordnet. Während drei davon originär für das Album geschrieben wurden, stammt das abschließende Renaissance zum Großteil aus dem Fundus ungenutzter Genesis-Arbeiten, für Fans & Komplettisten ist das Album natürlich allein deshalb schon interessant. Für den Rest - insgesamt irgendwo zwischen Spätromatik, orchestraler Filmmusik a la John Williams oder den Disney-Arbeiten von Kollege Collins einzuordnen. www.tonybanksmusic.com

 
 

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https://tonybanks.tmstor.es

 

Nils Frahm - All Melody

Erased Tapes / Indigo

Neo-Klassik-Durchstarter, Victoria-Filmkomponist, Funkhaus-Saal- 3-Bewohner. Mit seinem siebten Album schließt Nils Frahm die zweijährige Phase ab, in der er sich einen Kindheitstraum erfüllte und der Umbau seines formidablen Studios im historischen Berliner Funkhaus Nalepastraße im Mittelpunkt stand. Das behutsam und mit Liebe zum Detail restaurierte und mit moderner wie analoger Retro-Technik angefüllte Schmuckstück wird im Booklet ausführlich fotografisch vorgestellt. Ursprünglich wollte Frahm ein Album mit Klavierstücken, ein zweites mit verschiedenen Musikern & Instrumenten im Ensemble und ein drittes, rein elektronisches Album aufnehmen. Doch die geplante Trilogie verschmolz zu All Melody, das nun all diese Ansätze vereint. Regelmässige Begleiter sind hier Anne Müllers Cello und Sven Kacireks Bass-Marimba. Das Klavier rückt mehr in den Hintergrund, ausgefeilte Percussiv-Halleffekte, groß angelegte, orchestrale Parts und Chor-Arrangements für das 12-köpfige Ensemble Shards (etwa das wunderbare Intro zum Opener The Whole Universe wants to be touched) übernehmen. Schönes Album, zudem exzellent verpackt, auch haptisch ein Genuss. Durchhören, Durchblättern, Befühlen, Staunen. Funkhaus Berlin * www.nilsfrahm.com

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Elifantree - Anemone

Eclipse Music / Galileo Music Communication

Wir sind viele. Das finnische Trio Elifantree liefert auf ihrem vierten Album (nach Love & Trees 2010, Time Out 2012 und Movers and Shakers 2015) einen selten vorhersehbaren Musik-Trip von erheblicher, größerer Bandbreite als die gelegentlich zum Vergleich genannten Beady Belle. Sängerin Anni Elif Egecioglu (Sax, Keys) Saxofonist Pauli Lyytinen (Keys) und Schlagzeuger Olavi Louhivuori navigieren mit Anemone durch Electro, Pop, Jazz und experimentellere Klänge, wobei die Improvisationsanteile im Studio geringer ausfallen als auf ihren berüchtigten Live-Dates, von denen das Berliner Publikum Mitte März eine Kostprobe serviert bekam. Zumeist zieht Anni Elif mit ihrer an keine Geringere als Kate Bush erinnernden stimmlichen Performance und roter Lockenmähne die Aufmerksamkeit auf sich, von den kongenialen Mitstreitern eingebettet in eine größere Vielfalt elektro-akustischer Texturen & Rhythmen, als man sie von einem Trio erwarten würde. Einiges davon geht auf das Konto des von Anni & Pauli neuerdings eingesetzten Blaswandler-Synthies. Beeindruckend eigenständig.  www.elifantree.com *

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Videos: Inexhaustible - 2018

The Greatest of Them All - 2015

 

Kira Skov - The echo of you

Stunt Records / In-Akustik

"Everything reminds me of you." Musikalische Trauerarbeit. Kurz nach Fertigstellung ihres bis dato letzten Albums im Februar 2017, verlor die dänische Sängerin Kira Skov durch den Tod von Nicolai Munch-Hansen völlig unerwartet ihren Ehemann, den Vater ihres gemeinsamen Sohnes und ihren engsten musikalischen Begleiter der letzten 13 Jahre. Um einen solchen Verlust verarbeiten zu können, gibt es keine Patentrezepte. Kira Skovs Therapie war es, ein Album für ihren Mann zu schreiben - The Echo of You. Anrührende, intime Lieder über das Leben, den plötzlichen Tod und den Schock, "..in my darkest hours". Produziert von John Parish (u.a. PJ Harvey), sparsam & folkig instrumentiert mit elektrischen und akustischen Gitarren, teils für Streichquartett und Perkussion. Beim geisterhaften Opener & Title Track und im musikalischen Zwiegespräch Lilac Sky singt Kira Skov mit Gast Bonnie Prince Billy gemeinsam. Wie der Album-Vorgänger In The Beginning aus dem letzten Jahr, mit der estländischen Saxophonistin, Komponistin & Arrangeurin Maria Faust (die auch für The Echo... vier Streicherarrangements beisteuerte) und noch mit Nicolai Munch-Hansen am Cello aufgenommen, erscheint das mit einem Foto des Verstorbenen gestaltete neue Opus ebenfalls im CD-Hochformat-Digipak. http://kiramusic.com

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Marc Romboy & Dortmunder Symphoniker - Reconstructing Debussy

Hyperharmonic - Kompakt / Rough Trade

Kultur-Schmelztiegel Ruhrpott: im Rahmen der Klassik-Crossover-Serie Groove Symphonic Music des Konzerthauses Dortmund gab am 12. Dezember 2016 Techno-Tüftler Marc Romboy zusammen mit den Dortmunder Philharmonikern unter Ingo-Martin Stadtmüller ein Konzert, bei dem gemeinsam ausgewählte, editierte und neu zusammengesetze Werke von Claude Debussy gegeben wurden: Groove Symphony Impressions Électroniques – Marc Romboy Reconstructing Debussy. Keine Überraschung mehr nach dem letzten Album Voyage la Planète - der Mönchengladbacher DJ-Producer hatte sich bereits geraume Zeit mit klassischer Musik im Allgemeinen & dem Impressionisten Debussy im Besonderen befasst. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts brach dieser mit tradierten Hörgewohnheiten - eine offensichtliche Parallele zur zeitgenössischen Elektronik. www.marcromboy.com

Gewinnspiel - Zwei Cds sind im Jackpot - Preisfrage: Einen anderen Künstler, der sich bereits als Remixer an Debussy versucht hat per Mail an: gewinnspiel @ cinesoundz.net

 GEWINN-SPIEL!
 

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Riopy

Warner Classics

Eine Stunde Solo-Piano. Der 1983 geborene Jean-Philippe Rio-Py alias Riopy, erfolgreicher Werbe-Jingle- & Film-Trailer-Composer, spielt als Steinway & Sons-Pianist auf seinem selbstbetitelten Solo-Debut jede Note selbst. Musikalisch auf den Spuren von Ludovico Einaudi, sieht der französische Künstler seine 16 Tracks als klingende Landschaft eigener Emotionen, Erfahrungen, Hoffnungen, aber auch Ängste: „Es ist die Welt – gesehen durch meine Augen, oder besser durch mein Klavier hindurch.“ Viele der Tracks hatten für den fingerfertigen Romantiker etwas Obsessives, da Sie erklärtermaßen wie von selbst ihren Weg auf die Tastatur fanden, nach Art von Vorbildern wie Michael Nyman oder Fréderic Chopin. Das perlt und fließt denn auch irgendwo zwischen diesen Polen gefällig dahin, packt uns aber auf Dauer nicht wirklich, sondern hinterlässt eher einen Nachgeschmack von Library-Musik. Die man so schonmal irgendwo gehört hat - vielleicht in einem Werbespot? www.riopymusic.com

 
 

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Slagr - DIRR

Hubro / Grappa

Folget der Fiedel. Minimalistisch-Meditatives vom norwegischen Kammerfolk-Trio Slagr. Chefin Anna Hyta an der Hardanger Fiddle, Amund Sjolie Sveen an Vibraphon & gestimmten Gläsern sowie Katrine Schiott am Cello sind auch mit ihrem nunmehr fünften Album noch nicht bei ECM gelandet, sondern in der Heimat geblieben und beim Grappa Musikkforlag-Sublabel Hubro untergekommen. Das ungewöhnliche, aber stimmige Instrumentarium und die große Bandbreite an Klängen, die die Musiker(innen) diesem auch ohne Gesang abgewinnen, halten die Aufmerksamkeit beim Hörer hoch. Mal folkloristisch, mal experimentell anmutend - wer die Feinheiten des vom zu Slagr zurückgekehrten Andreas Mjøs (Jaga Jazzist) produzierten Longplayers DIRR genau verfolgen möchte, sollte wiederholte Hördurchgänge einplanen.

www.slagr.com * www.hubromusic.com

 

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Alex Stolze - Outermost Edge

Nonostar Records / Rough Trade

Ende 2017 war Komponist & Produzent Alex Stolze als ein Drittel des Trios Solo Collective (mit Anne Müller & Sebastain Reynolds) an dieser Stelle zu Gast. Nur eine von vielen Kollaborationen (neben Bodi Bill oder Unmap), auf die sich der in der DDR ausgebildete Violinist in den letzten Jahren innerhalb der Berliner Szene einließ. Als Solokünstler präsentiert er auf Outermost Edge nun eine eigenwillige Mischung aus Electronica, Pop und Neo-Klassik, in deren Zentrum Stolzes selbst gebaute, fünfsaitige Violine steht. Das gute Stück wird dabei auffallend oft gezupft, also percussiv verwendet, was zur Exotik des Klangbildes beiträgt. Das zweite Stück Serve All Loss singt Stolze mit der israelischen Wahlberlinerin Ofrin, ein Liebeslied. Aber auch kritische Texte bringt er noch auf seinem Solo-Debüt unter. "Wenn es überall brennt, möchte ich das nicht ausklammern und einfach Wohlfühlmusik machen." http://alexstolze.com

 

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Solo Collective Part One 11-2017 Review

Kerim König - _in between

hey!classics / hey!blau

Für sein neun Walzer umfassendes Debütalbum arbeitete der Berliner TV-Komponist Kerim König 2015 erstmalig mit der ebenfalls in der Hauptstadt lebenden japanischen Pianistin Mayuko Miyata zusammen. Die ist nun auch auf Königs vorliegendem zweiten Werk mit von der Partie. König hat allerdings die instrumentale Palette für seine Non-Film-Kompositionen erweitert, auf _in between sind neben Miyatas Piano auch Synthesizer, Streicherarrangements für das Oriel-Quartett & Kontrabassist  Jörg Potratz, Stimmschnipsel von Sängerin Teresa Bergman und Drumloops zu hören. Kammermusikalisch, minimalistisch, gelegentlich elektronisch klingt das. Wo die Reise hingehen soll, geben die Namen der Vorbilder preis: Ólafur Arnalds, Jóhann Jóhannsson (s.o.) oder Max Richter. Mit dem verstorbenen Johannsson hat König schon einmal den Mastering Engineer gemeinsam: Francesco Donadello (Calyx). www.kerimkoenig.com 

 

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* Album-Trailer

© cinesoundz 2018