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FILM FESTIVAL MÜNCHEN 2017 NACHLESE

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Bitte einmal Happy End mit Alptraum

Wie immer gingen die 10 Tage Filmfest München rasend schnell vorbei – angefüllt mit interessanten Einblicken ins Filmbusiness, die Regisseure und Produzenten bei zahlreichen Q&As nach den Filmvorführungen oder während den Filmmakers Live-Veranstaltungen im Gasteig gerne gaben. Mit charmanten Events wie dem Südtiroler Empfang des Bolzano Film Festival Bozen oder der Fritz-Gerlich-Preisverleihung in dem wunderbaren Raum der Allerheiligen-Hofkirche hinter der Residenz. Und natürlich mit vielen großartigen Filmen.

Dieses Jahr hat sich die cinesoundz-Redaktion – neben den Filmen mit Musikbezug – vor allem auf die Reihe Neues Deutsches Kino konzentriert. Da gibt es immer wieder tolle Filme zu sehen, die dann leider doch nicht oder nur sehr kurz ins Kino kommen. Dauerbrenner ist natürlich das Thema Beziehung. Aber: Die deutschen Filmemacher verhandeln den Willen zum glücklichen Paar- oder Familiendasein dieses Jahr mit tendenziell positivem Happy End.

So treffen sich Karrierefrau Hannah (Silvia Hoeks) und Vollzeitvater Julian (Fahri Yardim) in der voll aus dem Leben gegriffenen Liebesgeschichte Whatever Happens von Niels Laupert ein letztes Mal, um ihre Wohnung aufzulösen, bevor Hannah mit der gemeinsamen Tochter nach New York zieht. Die moderne Familienkonstellation mit umgekehrten Vorzeichen ist gescheitert – oder nicht? Oder wie es Stephan Lacant, Regisseur der gut recherchierten Milieustudie Fremde Tochter, in dem sich eine rotzfreche Mannheimer Teenie-Ghettobraut (Elisa Schlott) in einen jungen Moslem (Hassan Akkouch) verliebt, ausdrückt: „Ein bisschen Hoffnung im Leben finde ich auch schön.“ Klingt langweilig? Überhaupt nicht, denn der Weg zum Happy End führt dieses Jahr oft über bizarre Traumwelten bis hin zur Persönlichkeits-Spaltung. Und das sind Zutaten für wunderbar skurrile Komödien – im besten Sinne.

Zum Heulen banal und dennoch herzzerreißend komisch inszeniert Laura Lackmann in Zwei im falschen Film ihre Protagonisten: Hans (Marc Hosemann) nennt seine Freundin (Laura Tonke) „Heinz“ – und das sagt eigentlich schon alles über ihre langjährige Beziehung. Als an ihrem Jahrestag keine romantische Stimmung aufkommen will, erstellen sie eine Liste mit all den „Sachen“, die zu einer filmreifen Liebe gehören: Sehnsucht, Leidenschaft, Eifersucht... Beim Abarbeiten dieser Liste stellen sie fest, dass im wahren Leben nichts ist wie im Film. Mit Fühlen Sie sich manchmal ausgebrannt und leer? hat Regisseurin Lola Randl den vielleicht skurrilsten Beitrag des Filmfests geliefert, sicher aber den Film mit dem schrägsten Titel. Luisa rast durch ihr Leben. Als die Paartherapeutin eines Morgens aufwacht, gibt es sie plötzlich doppelt. Endlich kann Luisa (Lina Beckmann) mit ihrem Lover (Benno Fürmann) durchbrennen, während ihr Double sich um ihren Mann Richard (Charly Hübner) kümmert. Ganz so einfach ist es dann doch nicht – und was passiert, wenn aus den zwei Luisas plötzlich drei werden?

Psychologische Pathologien liegen auch anderswo im Trend: Das Neue Deutsche Kino hat das Horror- und Thrillergenre für sich entdeckt – und kann an Spannung locker im internationalen Vergleich mithalten.

Um Persönlichkeitsspaltung geht es auch in Die Vierhändige von Oliver Kienle, einem Psycho-Mystery-Thriller um zwei Schwestern (Frida-Lovisa Hamann und Friederike Becht), die als Kinder Zeugen des Mordes an ihren Eltern wurden. Als die Täter von damals nach 20 Jahren wieder auf freiem Fuß sind, geschehen ein Unfall, bei dem eine der Schwestern ums Leben kommt, und der anderen daraufhin seltsame Dinge... Einen alptraumhaften Psychothriller hat Nina Vukovic (Förderpreis Neues Deutsches Kino Filmfest München 2013 für Love Steaks) dieses Jahr mit Detour beigesteuert: Um ihren Lover dazu zu zwingen, zu ihrer Affäre zu stehen, nimmt Alma (Luise Heyer) in einer Spontanaktion dessen kleinen Sohn mit auf eine heimliche Reise. Leider drückt sie bei Mitfahrgelegenheit Bruno (Lars Rudolph) die falschen Knöpfe, sodass der alle Hemmungen fallen lässt. Zu welcher Tragik sich ein ganz normaler Tag entwickeln kann, lässt einem die Haare zu Berge stehen.

Auf körperliche Reaktionen wie Gänsehaut und Angstschweiß legten es auch wieder die Shocking Shorts an: Wer es nicht auf die Gästeliste des berüchtigten 13th Street Shocking Short Award geschafft hatte – dieses Jahr im Gesundheitszentrum bei Bloody Mary aus dem Reagenzglas und Erdbeerlimes aus der Spritze – konnte sich letzten Freitag um 22.13 im Atelier-Kino die volle Dosis aller zehn Nominierungen inkl. des Preisträgers Nicole’s Cage geben.

Bleibt zu hoffen, dass der eine oder andere Film der deutschen Reihe in die Lichtspielhäuser kommt – verdient hätten sie es alle. - gb


Förderpreis Neues Deutsches Kino 2017:

Regie: Sonja Maria Kröner (SOMMERHÄUSER)
Produktion: Philipp Worm & Tobias Walker (SOMMERHÄUSER)
Drehbuch: Julia Langhof & Thomas Gerhold
(LOMO - THE LANGUAGE OF MANY OTHERS)
Schauspiel: Annika Meier
(MAGICAL MYSTERY ODER: DIE RÜCKKEHR DES KARL SCHMIDT)

 

 

 

 

20170624 002357Was ein bisschen Farblicht ausmacht: Das Festivalzentrum im Gasteig hat sich schick gemacht. Foto © G. Beck

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So viele Beteiligte: Oliver Kienle holte einen Großteil der Crew nach dem Screening seines unheimlichen Thrillers Die Vierhändige auf die Bühne. Foto © G. Beck

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Immer wieder eine tolle Location: Die Allerheiligen-Hofkirche hinter der Residenz war bei der Preisverleihung des Fritz-Gerlich-Preises gegen Machtmissbrauch bis auf den letzten Platz gefüllt. Foto © G. Beck

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Spielen mit Herz und Verstand in Whatever Happens ein Paar, das sich über der Alltagsorganisation entfremdet hat: Silvia Hoeks, deren Hollywood-Debut Blade Runner 2 sich gerade in der Postproduktion befindet, und Fahri Yardim, hier einmal nicht in einer Klamauk-Rolle. Foto ©Filmfest München

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Elisa Schlott, bekannt aus dem Tatort Borowski und der Himmel über Kiel und Hassan Akkouch, festes Ensemble-Mitglied der Münchner Kammerspiele, setzen ihre Liebe in Fremde Tochter an Ende gegen alle kulturellen und gesellschaftlichen Hürden durch. Foto © Filmfest München

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Doppel- bis Dreifachrolle souverän gemeistert: Lina Beckmann in Fühlen Sie sich manchmal ausgebrannt und leer? Foto © Filmfest München

Deutsche Retro-Favouriten sr:  Der Mann auf der Mauer & Linie 1 im Rahmen der Reinhard Hauff-Hommage im Filmmuseum (im Juli.: JAZZ im Film)

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Impressionen vom 13th Street Shocking Short Award 2017 im Gesundheitszentrum München. Fotos © Gabriela Beck