REVIEWS BOOK 05-2016
|
Berlin 1936
Oliver Hilmes / Siedler
Die Diktatur im Pausenmodus, Swing statt Horst Wessel-Lied: Sechzehn Tage im August 1936, während der manche Showidee darüber hinwegtäuschen mochte, was seit einigen Jahren in Deutschland vorging. Die Olympischen Sommerspiele wurden von der NS-Propaganda fur die Aufführung einer bis dahin beispiellosen (nachträglich durch Leni Riefenstahls Olympia-Filme mehr inszenierten als dokumentierten) Leistungsschau genutzt, nachdem bereits Anfang 1936 die Winterspiele in Garmisch Partenkirchen stattgefunden hatten. Der Fackellauf vom griechischen Olympia bis zum Austragungsort der modernen Olympischen Spiele fand zum ersten Mal statt, es gab als technische Sensation erste TV-Übertragungen vom Mega-Event. Die Deutschen gewannen wie vorgesehen die Nationenwertung. Dennoch musste sich die Nazi-Elite mit einem schwarzen Superstar abfinden - der US-amerikanische Leichtathlet Jesse Owens gewann bekanntermaßen vier Goldmedaillen. Autor Oliver Hilmes verbindet Momentaufnahmen aus den Biographien deutscher und ausländischer, prominenter wie unbekannter Personen, von Olympioniken, Künstlern, Verlegern, Funktionären, Diplomaten, Nazis, Transvestiten, Restaurantbesitzern und Nachtschwärmern zu einem lesenswerten Panorama. Und dann waren die Spiele - für lange Zeit - vorbei. Hitler & Co. hatten die Nase ausgiebig in den Siegeswind gehalten und nahmen ihren Kurs in Richtung Weltherrschaft wieder auf... |
TIPP |
|
Verlassene Orte / Abandoned Berlin
Ciaran Fahey / be.bra
Und noch einmal Berlin 1936. Allein das Kapitel zu den Überresten des Olympischen Dorfes in Verlassene Orte - Berlin ist schon die 22 Euro wert, die der Fotoband im Laden kostet. Der irische Agentur-Journalist und Blogger Ciarán Fahey hat sich auf Tour durch Hauptstadt und Umgebung begeben und die spektakulärsten verlassenen Orte recherchiert und fotografiert, etwa die alte Eisfabrik in Berlin-Mitte, die ehemalige Irakische Botschaft in Pankow, das Wernerbad in Hellersdorf, die Ex-Spionagestation auf dem Teufelsberg oder den Honecker-Bunker in Wandlitz. Faheys Fotos feiern die oberflächliche Schönheit des Verfalls in diesen Ruinen der Moderne, der Autor spürt aber auch den oft finsteren Geschichten, die die bröckelnden Mauern bargen & bergen, nach. Mal kamen dem Spurensucher Graffiti-Sprayer, Hase oder Waschbär zuvor, mal findet er Hunderte Bärenquell-Etiketten, Rote-Armee-Murals oder dubiose Nazi-Mosaike. Die zugehörigen englischen & deutschen Texte schaffen zusätzliche Atmosphäre (auch wenn es bei letzteren in der Übersetzung durch das Lektorenteam Marijke Topp & Matthias Zimmermann manchmal knirscht). Magische Orte in Transformation - memorable Momentaufnahmen. Völlig zu Recht ausgezeichnet mit dem ITB Buch Award 2016 - unser Tipp. www.abandonedberlin.com – laut The Guardian immerhin der ."beste City-Blog in Deutschland". |
TIPP |
Das Buch des Reisens
Rainer Wieland / Propyläen
Die Seltsamsten Orte der Welt
Alastair Bonnett / C.H. Beck
Geheime Städte - Verlorene Räume - Wilde Plätze - Vergessene Inseln - Geografieprofessor Alastair Bonnett aus Newcastle auf Weltreise wider das populäre kulturpessimistsche Mantra, die Welt wäre (Übersetzung Andreas Wirthensohn) Zeitalter des Extrem- und des Massentourismus längst mindestens hinreichend, höchstwahrscheinlich aber komplett erobert, erforscht und vermessen. Und obwohl wie als Antithese jedem behandelten geographischen Ort die jeweiligen Google Earth-Koordinaten vorangestellt sind - Bonnett widmet sich dabei Räumen, die sich gängigen Erwartungsschemata widersetzen: verlassene, gesperrte, verlorene, übersehene sowie quasi erfundene, inszenierte (Un-)Orte. Er berichtet über die menschenleere nordkoreanische Reissbrett-Phantomstadt Kijong-dong, nachts nur zu Propagandazwecken in helles Licht getaucht, lediglich auf Karten existierende Inseln, Geisterstädte wie das aserbaidschanische Agdam oder das russische Selenogorsk (das nordzyprische Varosha ist interessanterweise nicht dabei), die Chitmahals, Hunderte von Enklaven und Unter-Enklaven zwischen Indien & Bangladesh oder das ostafrikanische Bir Tawil, von Ägypten als auch vom Sudan verschmäht. Allesamt so irritierend wie faszinierend - "Wir brauchen widerspenstige, ungebärdige Orte, die sich Erwartungen verweigern", meint der Autor, der sein trotz gelungener Illustrationen (von Lauren Nassef) zuweilen etwas akademisch anmutendes Buch mit einer 'Ode an eine Orte liebende Spezies', die Menschen, beschließt. |
Tourismus
Walter Freyer / De Gruyter Oldenbourg
"Zentrales Element des Tourismus ist die Reise." So einfach kann die Lehre sein. Die Einführung in die Fremdenverkehrsökonomie des Dresdener TU-Professors Walter Freyer erscheint aktuell bereits in der 11. Auflage - mit mittlerweile über 700 Seiten, optisch wie didaktisch aktualisiert & neubearbeitet. Der seit 25 Jahren auch in der Praxis erprobte Lehrbuchklassiker im Bereich Tourismus, der sich bemüht Grundlagen, Strukturen und Hintergründe im Geschäft mit dem Reisen leicht verständlich darzustellen, wurde gerade erst auf der jüngsten Internationalen Tourismus Börse in Berlin mit dem ITB Buch Award ausgezeichnet - erneut: nach 2011 - auch, um das Gesamtwerk Freyers zu würdigen. Märkte, Politik und Motive und gegen Ende sogar etwas Tourismuskritik (etwa `Aufstand der Bereisten´) - alles so systematisch und aktuell wie möglich - was auch gefragt ist, wenn angestammte Bereichen wie das `Beherbergungswesen´ von Share-Economy-Phänomenen wie Airbnb aufgemischt werden. |
Meins Ist Deins
Tom Slee / Kunstmann
Womit wir gleich beim nächsten Thema wären: Die unbequemen Wahrheiten der Sharing Economy beleuchtet der kanadische Autor Tom Slee. Individuelles `Couchsurfing´ war einmal - heute dominiert bei den Privatunterkünften in vielen Metropolen Gentrifizierung & Geschäftemacherei. Oft vorgeblich als `echt gute Idee´ - mit ´Peer to Peer´-Routinen, in Weiterentwicklung des Raubtierkapitalismus, gegen Ressourcenverschwendung & Umweltbelastung angetreten, entpuppen sich im Zeitraffertempo gewachsene Internet-Player wie Airbnb, Uber, Yelp & Konsorten zunehmend nicht als Heilsbringer, sondern als engagiert getarnte, gesamtwirtschaftlich aber höchst zweifelhafte Geschäftsmodelle, die sich auch nicht weniger zimperlich als angestammte Konzernplatzhirsche gerieren, wenn es um den anderswo abzuschöpfenden Mehrwert, Datensammeln und Zugriff auf wichtige Gemeingüter geht. Slee hat zwei Jahre recherchiert (davon künden 40 Seiten bibliographische und sonstige Anmerkungen) - vor allem in den USA - die mit etwas Verzögerung auch hierzulande zu beobachtenden Effekte lassen sich nach Lektüre von Deins Ist Meins fundierter - und mit der gebotenen Skepsis einordnen. |
Hans Söllner - Freiheit muss weh tun
Hans Söllner * Christian Seiler / Knaus
Mit 60 doch ein bisserl weise(r) - der bayrische Marihuana-Rebell erzählt aus seinem Leben - `with a little help´ des alpenländischen Kollegen von der schreibenden Zunft, Christian Seiler. Hey Staat - wer die kostspieligen Obrigkeits-Possen um den aus Bad Reichenhall gebürtigen Trikont-Künstler immer mal wieder verfolgt hat, erfährt hier nicht unbedingt viel Neues darüber, wem außer sich selbst der Söllner Hans im Lauf der Zeit so auf die Zehen gestiegen ist. Und kann doch einigermaßen vergnüglich Sachverhalte wie die Entstehung des Beckstein oder Charaktere wie den abgezockten `Rich´ noch einmal Revue passieren lassen. Auch wenn Söllner tatsächlich von Bob Marleys Repertoire erst nach dessen Tod aus seinem Irokesen-verzierten Koch- und Automechaniker-Dasein aufgeschreckt wurde, die Dreadlocks mit nun 60 ab (und versteigert) sind, seine langjährige Backing-Band Bayaman Sissdem ausgewechselt wurde und sich der Mann zuliebe seiner zweiten Frau mit der Staatsmacht nicht mehr gar so oft anlegt - eigenwillig-rootsiger als mit der Type Söllner wird es wohl diesseits der Alpen nicht mehr. |
Noch ein Ratgeber für schlechte Väter
Guy Delisle / Reprodukt
Rabenväter aufgemerkt. Angoulême-Preisträger Guy Delisle hat Numero Drei seines mittlerweile in Serie gegangenen Ratgebers (Le Guide Du Mauvais Père) am Start, der auch gleich auf dem Cover den gewissen pädagogisch wertvollen Moment einzufangen weiß... Man(n) hat es halt nicht leicht mit den lieben Kleinen, da ist hin & wieder auch mal fragwürdiges Erziehungs-Repertoire gefragt. Der weltgewandte kanadische Zeichner & Autor (Pjöngyang, Shenzen, Birma, Jerusalem) wendet als Protagonist und Betroffener also vor dem Einschlafen kundig die Harry Potter-Verben-Folter an, spielt die lieben Geschwisterchen virtuos gegeneinander aus oder konditioniert den Nachwuchs listig in Richtung Anti-Videospiel-Intensivdaddeln - nicht ohne allerdings bei vertrackter Fernsteuerungstechnik oder Senf-Ess-Wettbewerben auch mal den Kürzeren zu ziehen. Gut beobachtet & kurzweilig. |
KATAstrophen-Yoga
Eva Haak / Kunstmann
Statt Erleuchtung Durchleuchtung - wer hat nicht eine(n) mehr oder weniger malade(n) Yoga-Jünger(in) im Bekanntenkreis... Auch die selbst immer mal wieder schultergeschädigte Illustratorin Eva Haak staunte in der mehrjährigen Ausbildung zur Yogalehrerin nicht schlecht - über das eine oder andere, mit manch klassischer Hatha-Position nur bedingt vereinbare anatomische Detail. Mit dem von eigenen Zeichnungen aufgelockerten 100-Seiten-Band Kata(strophen)-Yoga möchte Haak nun Bandscheiben- und anderen unliebsamen Vorfällen vorbeugen und zeigen, wie man Yoga besser nicht betreiben sollte: zu sportlich, zu ehrgeizig, zu wenig vorbereitet. Im ersten Teil passieren die effektivsten Killer-Asanas für Hals- & Lendenwirbelsäule, die Knie sowie sonstige Gelenke humorvoll Revue, um dann im zweiten Part anhand von Skelett-Querschnitten und Piktogrammen zu erläutern, wie man am besten etwa mit Kundalini-Froschschenkel-Tiefkniebeugen umgeht. |